Rette sich, wer hat – aber bitte, jeder sich selbst!

Ist es heute etwa eine Ehre, arm zu sein? Wer ist schuld an den Früchten, die im Tanz um das goldene Kalb geerntet wurden? Wurde die Saat dazu nicht schon in den vergangenen Jahrzehnten ausgeworfen? Wenn die meisten Menschen in unseren postindustriellen Gesellschaften heute nur noch die gemeinsten, oft virtuell vermittelten Genüsse kennen, reich sind an den kostspieligsten Zeitvertreiben, mit Geld und Besitz protzen, als wäre dies das einzig Erstrebenswerte – ernten wir dann nicht, was jahrelang gesät worden ist und weiterhin gesät wird? Es scheint, dass wir krank sind, krank in der Überschätzung allen äußeren Gutes. Diese Krankheit hat einen Namen: Gier nach mehr.

Vielleicht begannen wir Ende des Jahres 2008 gerade damit, uns von dieser Krankheit zu heilen. Sicher scheint heute zu sein, dass wir arm werden, ärmer als uns jetzt noch gefällt, es uns vorzustellen. Wenn es nur in unserem Willen läge, würden wir uns mit allen Mitteln gegen das Ärmerwerden wehren. Schon scheint in unserer Gesellschaft mehrheitlich das Motto akzeptiert „Rette sich wer hat“. Unsere Politiker und Finanzjongleure versuchen das gerade auch mehr oder weniger; denn für die meisten Menschen ist das Leben in Fülle durchaus der schönste vorstellbare Zustand.

Deutschland hat in nur wenigen Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg gesamtwirtschaftlichen Reichtum erlangt. Dieser Reichtum ist stetigem industriellen Wachstum und der Kapitalkonzentration auf das westliche Europa und die USA geschuldet. Wir, die wir in den 60er, 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts groß wurden, waren ihn gewohnt. Wir glaubten, er wäre etwas Gesichertes und Normales, haben auch heute noch nicht seine Tücke erkannt. Unsere Möglichkeiten und unser Wissen waren gleichzeitig größer als je zuvor. Wir gestatteten uns den Protest der Intellektuellen, der Jugend- und Studentengenerationen besonders in den 60er und 70er Jahren vor allem gegen die Verdrängung der Schuldfrage am 2. Weltkrieg, gegen die Selbsttäuschungen und hohlen Werte-Phrasen im gesellschaftlichen Miteinander, gegen den militärisch-industriellen Komplex, gegen die Stellvertreterkriege in Ostasien, Afrika und Südamerika, gegen die Missachtung von Menschenrechten vor allem in zum Westen hin aufgeschlossenen Diktaturen – aber ohne wirklich im eigenen wirtschaftlichen Wohlergehen gefährdet zu sein. Wir ahnten also schon recht gut, dass der Motor dieses wirtschaftlichen Reichtums angetrieben wurde vom Wegschauen, von der Ausbeutung von Mensch und Natur besonders woanders, von politischer und wirtschaftlicher Macht hier und Ohnmacht dort. Gesellschaftliche Bewegung (Sozialdemokratisierung und Ökologisierung) und Forschungsaktivitäten in Natur- und Gesellschaftswissenschaften erblühten in knapp 30 Jahren in ökologisch-messbaren Bereichen einerseits sowie in soziologischen, pädagogischen und historischen Publikationsquantitäten andererseits. Denn unsere führenden Gesellschaftsgestalter und Führungspersönlichkeiten-Bildner in Politik, Wirtschaft und Hochschulen achteten besonders auf das Wissen und Denken, das konform und handhabbar war, mit mess- und wägbaren, irgendwie erfolgversprechenden, im weiteren Sinne konsumierbaren, letztlich auch das physische und institutionenangepasste Weiterkommen erfüllenden Resultaten.

Und so waren wir ganz nebenher an drei zeitlosen Bedingungen des Menschlichseins und Zusammenlebens sehr arm geworden: an Demut, an sittlichen Werten und an seelischer Beziehung zu allem Unmessbaren, Unwägbaren, Unmateriellen, zu anderen Menschen. Höchstens auf unsere Pferde, Haushunde und -katzen und die Ferne fokussieren wir heutzutage den verbliebenen Rest an seelischen Bedürfnissen, zu groß waren und sind offenbar echte oder vermeintliche Enttäuschungen unserer Erwartungshaltungen an andere hier. Und nun? Rette sich wer hat – aber bitte, jeder sich selbst?

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